C. Meyer: Leben mit erworbener Schädel-Hirnverletzung

Vorgeschichte

Im April 1975 wurde die Schnelligkeit meines Mokicks beim Anfahren an einer Ampel von einem entgegenkommenden, links abbiegenden Auto unterschätzt. Ich war damals im Alter von 18 Jahren und ging in die 12. Klasse eines Gymnasiums. Bei dem Zusammenstoß mit dem Auto flog ich vom Moped und landete mit dem Kopf an der Seite des Autos oder auf dem Asphalt. - Es gab damals noch keine Helmpflicht. - Mein Glück war nach Erzählung meiner Eltern, dass zufällig ein Krankenwagen mit Notarzt vorbeikam.

Ich hatte eine schwere Contusio cerebri mit anfänglicher halbseitiger Lähmung und eine Splitterung der rechten Kniescheibe erlitten. Aufgrund der Kopfverletzung lag ich dreieinhalb Wochen im Koma in einem kritischen Zustand, weswegen das Knie nur gegipst wurde. Nach dreimonatigem Krankenhausaufenthalt wurde ich in ein Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche überwiesen, von wo ich aber direkt wieder zurück in die Innere Klinik in meinem Heimatort musste, weil bei der Anfangs-Blutuntersuchung ein Leberschaden festgestellt wurde. Die daraufhin durchgeführte Leberpunktion stellte eine mittlerweile ausgeheilte Hepatitis (Gelbsucht) fest, die aber nicht mehr ansteckend war. So fuhr ich mit meinen Eltern zurück ins Rehabilitationszentrum.

Zum Schuljahresbeginn im Herbst des gleichen Jahres konnte ich wieder zur Schule gehen, besuchte aber statt der 13. Klasse die Klasse 11 wegen des fehlenden Lehrstoffs, des versäumten, damals in der 12. Klasse üblichen Vorabiturs in Mathematik und Einführung eines neuen Schulsystems. Meinen bisherigen Zeugnisdurchschnitt zwischen 2 und 2,5 konnte ich trotz großer Bemühung nicht mehr erreichen und schloss das Abitur mit 4,0 ab. - Das Problem war meine nicht mehr umsetzbare mathematische Begabung, weswegen ich vorher in Mathematik ohne jede Mühe immer Note 1 hatte. Ich verstand zwar immer noch die Rechenwege, konnte es aber trotzdem nicht mehr entsprechend anwenden.

Nach Abschluss einer kaufmännischen Lehre mit durchschnittlichem Abschluss versuchte ich doch ein Studium, weil schon vor Beginn der Ausbildung eine Übernahme ausgeschlossen wurde und mir die Arbeit nicht gefiel. Mein Knie bereitete mir beim langen Sitzen starke Schmerzen, obwohl ein Jahr nach dem Unfall die Splitter im Knie operativ entfernt und bei einer erneuten Operation nach zwei Jahren die Knorpel an der Innenseite der Kniescheibe beseitigt wurden. (Es folgten später noch zwei weitere Operationen mit nur anfänglichem Erfolg.) Bei dem Studium musste ich leider erkennen, dass ich die Lernleistung nicht mehr aufbringen konnte, auch wenn der Studieninhalt mich sehr interessierte. Ich bemühte mich dann um eine Arbeitsstelle, und erst nach vielen erfolglosen Versuchen und Kündigungen nach der Probezeit gelang es mir, einen Arbeitsplatz zu finden, der auch optimal für mein Knie war. Über zehn Jahre kam ich meinen arbeitsvertraglichen Pflichten nach, lange Zeit zur Zufriedenheit meines Arbeitgebers. Leider hatte ich aber 2010 und 2011 drei unverschuldete Unfälle mit Brüchen erst des einen, dann beider Fußknöchel, was mein Arbeitgeber in der Folge zum Anlass nahm, mir krankheitsbedingt zu kündigen. Nach gewonnener Klage gegen die Kündigung in erster Instanz ist mein Arbeitgeber jetzt in Berufung gegangen.

Erfahrung nach bald 40 Jahren

Als Mensch mit Hirnverletzung darf man nicht intelligent sein bzw. keine „Rest“-Intelligenz besitzen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass manche Menschen, (direkte) Vorgesetzte z.T. versuchen, Menschen mit Hirnverletzung etwas vorzumachen. Sicher kann das auch bei Menschen mit anderen Behinderungen so sein, aber da ist die Behinderung meist sichtbar und wird eher „ernst genommen“. Wenn man sich „dann auch noch“ zu wehren versucht, wird man für unnormal, psychisch krank erklärt. Es wird keine Rücksicht darauf genommen, wenn man nicht mehr so schnell denken kann. Es wird einem übel genommen, wenn später noch Gedanken zu einer zuvor beredeten Sache nachgeschoben werden. - Wie aber diese Missverständnisse der Umwelt die Betroffenen belasten, wie sehr deren Art sie verletzt, kann meiner Erfahrung nach kaum jemand nachvollziehen. Es wird zwar so getan, als ob sie den Schwerbehinderten verstünden, und sie sagen Dinge zu, zu denen sie teilweise später nicht mehr stehen. - Sie finden natürlich auch evt. nachvollziehbare Gründe, weshalb sie sich nicht an ihre Zusage halten. - Wie ich mittlerweile vermute, wollen sie die Betroffenen quasi nur ´ruhig stellen´, damit sie sie nicht mehr ´belästigen´.

Wo bleibt da die Wahrung unserer Menschenwürde? Mit uns Betroffenen mit unverschuldeter Hirnverletzung kann man machen, was man will? Darf man spielen, sie spüren lassen, dass man ausgegrenzt ist, weil man nicht so wie die anderen ist, nicht so wie sie reden kann? Weil man nicht immer das gleiche machen kann wie sie? - Arbeitgeber müssen einen bestimmten Prozentsatz ihrer Arbeitsstellen mit schwerbehinderten Arbeitnehmern besetzen (oder eine Strafe zahlen). Warum kann man sie und alle leitenden Arbeitnehmer, die im Rahmen ihrer Arbeit Umgang mit Schwerbehinderten haben, nicht verpflichten, entsprechende Seminare zu besuchen, in denen sie auch lernen, welche Auswirkungen manche Verhaltensweisen auf Schwerbehinderte haben, wie man mit ihnen umgehen sollte? Ist das der Gesetzgeber schwerbehinderten Mitbürgern zur Wahrung ihrer Menschenwürde nicht schuldig?

Mein größtes Anliegen ist es, diese Missstände abzustellen oder wenigstens etwas zu mildern, mildern zu helfen. Dazu trage ich auch gerne persönlich und finanziell, soweit es mir möglich ist, bei.

C. Meyer

Falls Sie zu Frau Meyer Kontakt aufnehmen möchten, richten Sie Ihre Anfrage bitte an das Beratungsteam der ZNS - Hannelore Kohl Stiftung.