Neurologische Gutachten

Wenn im Verlauf der Rehabilitationsbehandlungen deutlich wird, dass durch das Unfallereignis ein Personenschaden verursacht wurde, kommt es häufig zu einer Begutachtung. Diese Begutachtung kann entweder automatisch erfolgen (z.B. im Rahmen eines Arbeitsunfalls durch die Berufsgenossenschaft) oder muss im Rahmen von gerichtlichen Auseinandersetzungen eingeholt werden. Oftmals fordert die gegnerische Versicherung ein Gutachten an, um sich ein objektives Bild von der Schadenshöhe zu machen. Auch Reha-Dienstleister können Gutachten anregen.

 

Besonderheiten bei der Begutachtung nach einem Schädelhirntrauma 

Im Gegensatz zu anderen Verletzungen (z.B. Arm- oder Beinbruch) sind Verletzungen des Gehirns wesentlich komplexer zu beurteilende Unfallfolgen. Das Ausmaß von Hirnschädigungen kann stark variieren. Oftmals gibt es keine 1-zu-1-Beziehung zwischen dem Ausmaß des Unfallschadens und den Auswirkungen der Unfallfolgen in den privaten oder beruflichen Alltag. Manche Verletzungen des Nervensystems werden nicht sofort offensichtlich und bedürfen einer sorgfältigen und manchmal auch sehr umfangreichen Untersuchung. Einige Patienten wirken im ersten Augenblick recht wach und gut ansprechbar, sind aber z.B. nach einer oder zwei Stunden Belastung durchaus völlig ausgelaugt, müde und kaum noch zu einem wachen Gedanken fähig.

Natürlich ist es gut nachvollziehbar, wenn Sie durch die Folgen eines Unfalls in eine gesundheitlich lebensbedrohliche und auch finanziell sowie privat in eine sehr belastende Situation gekommen sind und dafür nun eine angemessene Entschädigung (wie immer diese am Ende aussehen mag) verlangen. Die möglichen Kosten für Rehabilitationsmaßnahmen und Hilfsmittel können mitunter sehr hoch sein und teilweise lebenslang andauern. Hierbei ist zu beachten, dass der Gutachter dabei nicht „Ihr Freund“ und auch nicht Ihr Fürsprecher ist. Er ist unparteiisch und muss die vorliegenden Fakten in Bezug auf die Unfallfolgen prüfen und abwägen. Er muss Sie nicht unbedingt mögen und umgekehrt gilt dasselbe für den Begutachteten. Auch wenn Sie vielleicht nicht unbedingt „warm geworden“ sind miteinander, so hat das keinen Einfluss auf die Gutachtenaussage. Diese ist sachlich zu begründen.

 

Nachweis des Vorliegens einer Hirnschädigung im Vollbeweis 

Es gibt zwei wesentliche Arten von Gutachten zu unterscheiden: Zum einen ist dies der Nachweis über den Zusammenhang von Unfallereignis und Beeinträchtigungen (Kausalität) und zum anderen die Bewertung des Ausmaßes der Unfallfolgen (Finalität). Hierbei gibt es eine klare Abgrenzung der jeweiligen Arbeitsteilungen: Der medizinische Gutachter ist kein „halbgebildeter Jurist“ und der Jurist kein „halbgebildeter Mediziner“. Deshalb wird der Gutachter sich dem Untersuchten gegenüber auch nicht äußern, ob ein möglicher Rechtsstreit erfolgversprechend sei oder nicht. Diese Entscheidung liegt allein im juristischen Bereich. 

Ob ein Unfallereignis auch tatsächlich die Ursache für das Vorliegen einer Hirnschädigung ist, wird in der Fachsprache als „Vollbeweis“ bezeichnet. Der Gutachter beschreibt dann den Ursachenzusammenhang zwischen Unfall und gesundheitlichen Folgen als gesichert oder als „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“. Dabei muss diese Wahrscheinlichkeit so hoch sein, dass sie praktisch einer Gewissheit gleichkommt. Eine theoretische Möglichkeit reicht hierfür nicht aus. 

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass ausschließlich Funktionsausfälle und die dadurch bedingten Einschränkungen im Alltag entschädigungspflichtig sind. Die Schwere der z. B. im Computertomogramm sichtbaren Verletzung wie Hämatom, Blutung usw. bildet hierfür nicht den Maßstab, sondern allein die Leistungseinschränkungen. Dies ist für Schädelhirnverletzungen auch wichtig, da die Folgen selbst scheinbar geringer Verletzungen im Alltag dann durchaus erheblich sein können. Zu bedenken sind hier eine große Bandbreite an möglichen Beeinträchtigungen durch z.B. Lähmungen oder teilweise Lähmungen, neu aufgetretenes Zittern der Hände, Gangschwierigkeiten oder vielleicht sogar Rollstuhlpflicht oder Bettlägerigkeit. Bewusstseinsstörungen, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Planungs- und Handlungsstörungen, Antrieb, aber auch sprachliche Defizite, Schluckschwierigkeiten, Schlafstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Kreislaufschwierigkeiten sind zu bedenken. Manchmal gibt es auch infolge einer Mehrbelastung einen Überhang in den nächsten Tag, so dass die jeweilige Tagesform stark variieren kann. 

Neben diesen körperlichen und geistigen Einschränkungen sind aber auch die psychischen Auswirkungen der Unfallfolgen bei jedem Menschen unterschiedlich. So wird ein Elektriker eine leichte räumliche Vorstellungsschwäche beruflich sicher besser verkraften als ein Ingenieur, der dadurch wahrscheinlich unfähig würde, seinen Beruf weiter auszuüben. Umgekehrt könnte ein Ingenieur im Rollstuhl seine Arbeit am Schreibtisch wahrscheinlich eher weiterleisten als ein Elektriker im Rollstuhl. Hinter solch kühlen rechnerischen Überlegungen stehen jedoch persönliche Dramen unterschiedlicher Persönlichkeiten mit völlig unterschiedlichen Arten der Krankheitsverarbeitung (Katastrophenreaktionen, Wut, Verzweiflung, Depression, Rückzug usw.). 

 

Bewertung der Verletzungsfolgen 

Schwierig wird es bei der Begutachtung, möglichst alle Aspekte sorgfältig so zu beachten und zu beschreiben, dass diese für den weiteren Begutachtungsprozess nachvollziehbar sind. So könnte es einen Unterschied machen, ob z.B. ein gesunder Mensch oder ein sogenannter „multimorbider“ Patient mit vielen Vorerkrankungen eine Treppe hinunterfällt und sich Verletzungen zuzieht. Der Gutachter muss gut trennen zwischen den Erkrankungen, die schon vorher bestanden haben und denen, die auf der bisherigen Lebensbasis nun durch den Unfall noch hinzugekommen sind. Dazu fließen noch in dem Prozess die individuelle Persönlichkeit des Verunfallten und sein soziales Umfeld ein. Kompliziert wird eine Beschreibung und Einschätzung der Leistungseinschränkungen, wenn es Unterschiede in der Tagesform gibt (Unterschiede innerhalb eines Tages oder unterschiedliche Leistungen an verschiedenen Tagen). Spätestens hier wird deutlich, dass Verletzungen des Gehirns und Nerven komplizierte Folgen haben können. 

Manchmal gibt es Unfallfolgen, die erst im weiteren zeitlichen Verlauf nach dem Unfall auftreten. Hierzu zählen insbesondere Kopfschmerzen (besonders nach Wetterwechseln) oder sog. posttraumatische Epilepsien, die teilweise erst mehrere Jahre nach dem Unfall auftreten können. Manchmal können die Unfallfolgen schlicht nicht vorherzusagen sein. Sie erfordern eine sorgfältige Beobachtung und Dokumentation wie z.B. in diesem Fall: Ein Patient nach schwerem Verkehrsunfall als Fußgänger wird sehr lange auf der neurologischen Frührehabilitation behandelt. Er entwickelt sich scheinbar gut und wirkt stabil. Dieses kann jedoch bei einer Weiterbehandlung in der nächsthöheren Reha-Phase völlig anders aussehen, wenn er hier auf „bessere“ Patienten trifft und dann im Zuge seiner kognitiven Verbesserungen erst das ganze Ausmaß seiner Leistungsbeeinträchtigungen einsehen kann. 

Schwierig wird es auch, wenn im Rahmen von Unfallfolgen wie z.B. posttraumatischen Epilepsien der Einsatz von Medikamenten notwendig wird. Solche Medikamente bringen auf der einen Seite einen Gewinn an Lebensqualität (hier: Anfallsfreiheit), andererseits steht diesem Gewinn aber auch eine Belastung durch mögliche Nebenwirkungen (z.B. starke Müdigkeit, Verlangsamung von Reaktionen) gegenüber. Der behandelnde Arzt wird diese Abwägung bei der Behandlung sorgfältig vornehmen. Diese Überlegungen muss der Gutachter in sein Gesamturteil einbeziehen, insbesondere wenn der Verunfallte die Medikation mit ihren Nebenwirkungen über Jahre hinweg (vielleicht sogar lebenslang) einnehmen muss. 

 

Zusatzgutachten 

Es gibt Unfallfolgen, die so komplex in ihrem Gesamtbild sind, dass die Fachkenntnisse des Gutachters hierfür nicht ausreichen. Dies können internistische, orthopädische oder schmerztherapeutische Fachärzte sein, deren Kenntnisse der Gutachter als Zusatzgutachten einfordern kann. Oftmals fordert der Gutachter auch ein neuropsychologisches Zusatzgutachten an, damit das kognitive Leistungsbild objektiviert und die durch den Unfall bedingten Leistungseinschränkungen genau beschrieben werden können. Die Informationen sind dann wesentlich genauer, als wenn es der Gutachter (wahrscheinlich dann nicht so präzise) abschätzen würde. Solche Zusatzgutachten sind üblich und als fair und notwendig im Gesamtprozess zu bezeichnen. Für den Patienten (und meist auch Angehörige) kommen dann nochmals Untersuchungstermine hinzu, die auch längere Anfahrtswege bedingen können. Erfahrene und spezialisierte Neuropsychologen sind nicht unbedingt wohnortnah zu finden. 

Insbesondere nach schweren Unfällen oder besonderen Umständen (z.B. ein gebrechlicher älterer Mensch wird von einem Auto angefahren) kann es notwendig werden, dass bei diesem Menschen eine Betreuung eingerichtet werden muss, da er seine Angelegenheiten nicht mehr selbst oder nur teilweise erledigen kann. Vielleicht wird er auch pflegebedürftig oder bedarf einer dauernden Aufsicht. Schwierig kann die Einschätzung z.B. werden, wenn zwar die Grundfunktionen auf den ersten Blick weitgehend normal wirken, jedoch massive Antriebsstörungen oder emotionale Störungen den Alltag für alle Beteiligten „zur Hölle“ machen können. Hierzu zählen u.a. eine Antriebsarmut bis hin zur Untätigkeit und ein schier endloses Verharren in einer Position oder auch ein emotionales Überschießen, dass schon bei ansonsten harmlosen Kleinigkeiten heftigste und lautstarke Reaktionen mit Tabuwortgebrauch (Schimpfworten) oder körperlicher Aggression hervorrufen. Auch hierfür kann die Expertise eines spezialisierten Neuropsychologen hilfreich zum Gesamtprozess der Begutachtung beisteuern.  

Wichtig ist, dass die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und Auffälligkeiten des Verhaltens im Alltag durch Angehörige notiert werden. Ohne diese Dokumentation wird es schwierig sein, alle Details und Abstufungen im Gespräch mit dem Gutachter angemessen zu behandeln. Es würde wahrscheinlich vieles vergessen werden. Machen Sie sich ruhig Notizen vorab. Dies würde der Gutachter als sorgfältige Vorbereitung sicher gutheißen. Auch er macht sich während der Untersuchung und des Gesprächs Notizen. Nur so lässt sich gewährleisten, dass alle wesentlichen Informationen auf den Tisch kommen. Bitte reduzieren Sie Ihre Notizen dabei auf die tatsächlich wesentlichen Inhalte und halten Sie in Bezug auf den Umfang ein Augenmaß. 

 

Das Gespräch mit dem Gutachter 

Ganz praktisch gesehen: Bei Gutachten besteht Ausweispflicht. Bitte seien Sie also nicht verwundert, wenn der Gutachter oder vorab das Sekretariat Sie um Vorlage Ihres Personalausweises bittet (auch wenn Sie noch so viel Aktenmaterial vorab geschickt haben oder bei sich haben). Nach der Begrüßung wird das Gutachten in aller Regel erst einmal mit einem Gespräch beginnen. Hierbei gibt es zwei Schwerpunkte, die der Gutachter einbezieht. Zum einen ist es die sog. Anamnese, d.h. Ihre Krankengeschichte. Hier wird Sie der Gutachter fragen, wie Ihre Behandlung bisher verlaufen ist. Meistens hat er viele Informationen hierzu schon vorab durch eine Akte bekommen und wird daher vielleicht nur die Informationen im Verlauf auf Vollständigkeit prüfen. 

Zum zweiten wird er in einem entscheidungsorientierten Gespräch, der sog. Exploration, danach fragen, wie es Ihnen nun tatsächlich geht, welche Beschwerden Sie haben und was sonst noch an Belastungen, aber auch vielleicht an positiven Entwicklungen eingetreten ist. Wichtig ist, dass Sie im Gespräch nicht nur die Fakten (z.B. wann Sie in welchem Krankenhaus behandelt wurden) angeben, sondern auch genau beschreiben, wie es Ihnen täglich geht. Dabei kann auch der Hinweis auf erhebliche Tagesschwankungen (innerhalb eines Tages oder auch zwischen verschiedenen Tagen) wichtig sein. 

Nach dem Gespräch, das während des gesamten Untersuchungszeitraums ergänzt werden kann, folgt in aller Regel die neurologische Untersuchung. Hierbei soll der Gutachter darauf achten, dass seine Untersuchung vollständig ist. Daher wird sie in einer bestimmten Reihenfolge vorgenommen (Auflistung nach Poeck & Hacke, Neurologie, 2001):

  • Inspektion des Kopfes
  • Untersuchung des Kopfes
  • Hirnnerven
  • Reflexe
  • Motorik
  • Bewegungskoordination
  • Sensibilität
  • Vegetative Funktionen
  • Orientierende internistische Untersuchung, insbesondere des Herzens und der Blutgefäße
  • Psychischer Befund
  • Bei Bedarf: Neuropsychologische Untersuchung oder weitere Zusatzgutachten. 

Bei diesen Untersuchungen wird zugrunde gelegt, dass das menschliche Nervensystem sehr regelmäßig organisiert ist. Für alle Menschen gelten z.B. sehr ähnliche Funktionsausfälle, wenn bestimmte Gehirnregionen oder auch das Rückenmark betroffen sind. Hierfür gibt es detaillierte Untersuchungsprozeduren und auch sehr genaue Anatomiekarten, in denen die jeweiligen Funktionsbereiche verzeichnet sind. Der Gutachter wird darüber hinaus auch auf Ihre psychische Situation achten und kann bei Bedarf wie o.g. ein neuropsychologisches Zusatzgutachten in Auftrag geben. 

Natürlich geht der Gutachter davon aus, dass Sie ihm Ihre Beschwerden besonders deutlich vortragen. Schließlich geht es um eine ernste Situation, teilweise sogar um Existenzen und da kann jedes Detail bei der Schilderung wichtig werden. Dabei ist es für Sie auch wichtig, dem Gutachter die Symptomatik bzw. die Schwere Ihrer Erkrankung so zu zeigen, dass er dies versteht und nachvollziehen kann, wie es Ihnen tatsächlich geht, was Sie können und was eben nicht mehr. Nun gibt es (wenige) Patienten, die es hierbei übertreiben und sich deutlich kränker darstellen, als es die untersuchten und objektiv vom Gutachter festgestellten Symptome hergeben. Man ist aber gut beraten, bei seinen Angaben ehrlich zu bleiben. Schildern Sie die Dinge am besten wie sie sind und wie Sie sich dabei fühlen. Ein erfahrener Gutachter würde Unstimmigkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit entdecken. Er würde aber genauso gut in allen Feinheiten wahrnehmen, wenn Sie ihm die Schwierigkeiten und besonderen Einzelheiten im Alltag zuhause oder bei der Arbeit gut nachvollziehbar beschreiben. Der Gutachter weiß um das Gewicht seiner späteren schriftlichen Ausführung. 

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass es immer wieder Patienten gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – sich weniger krank darstellen als sie es sind.

Einige Hirnschädigungen können zu einer Störung der Einsichtsfähigkeit in die eigenen Leistungsdefizite führen, dass selbst offensichtliche Defizite nicht vom Patienten erkannt oder benannt werden können. So kommt es in einer Gutachter-Laufbahn sicher immer wieder vor, dass selbst Rollstuhlfahrer beteuern, dass sie in zwei Wochen wieder „fit für die Baustelle“ z.B. als Maurer sein würden. Hierbei wird der Gutachter vielleicht zusätzliche Informationen durch ein Angehörigengespräch einholen. Bitte planen Sie genügend Zeit für die Untersuchungen ein und organisieren Sie andere Verpflichtungen mit Pufferzeiten (z.B. Kinderbetreuung, Arbeitszeiten). Ein Gutachten wird Zeit in Anspruch nehmen. Bei neuropsychologischen Zusatzgutachten kann dies auch deutlich über einer Stunde liegen. Bitte melden Sie sich rechtzeitig, wenn Sie bei längerem Untersuchungsverlauf eine Pause benötigen, etwas essen, trinken oder die Toilette besuchen müssen.  

Die Ergebnisse der Daten, die der neurologische Gutachter im Rahmen seiner Untersuchungen zusammengetragen hat, wird er Ihnen normalerweise nicht mitteilen. Er ist zunächst einmal demjenigen gegenüber auskunftspflichtig, der das Gutachten in Auftrag gegeben hat. Ob das Gutachten dann ohne weiteres wiederum an weitere Stellen weitergegeben werden darf, beschreibt der Gutachter in seinem Text am Schluss.  

Autor: Dr. Wolfgang Kringler, Klinischer Neuropsychologe

 

Checkliste: Das Gespräch mit dem Gutachter