Ein bisher nie dagewesener Einblick in organische Strukturen dank transparenter Mäuse und die Standarisierung der Behandlung von Gehirnerschütterungen: Es sind Ergebnisse und Vorhaben wie diese, die die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung für besonders förderungswürdig hält. Seit 1993 unterstützt die Hilfsorganisation für Menschen mit Schädelhirntrauma (SHT) exzellente Forschung und engagierte Arbeit auf dem Gebiet der Neurowissenschaften. Zum einen vergibt sie alle zwei Jahre den renommierten Hannelore Kohl Förderpreis in Höhe von 10.000 Euro an Jungwissenschaftler:innen, die neue Perspektiven eröffnen oder die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern, zum anderen verleiht sie seit 2018 Doktorandenstipendien in gleicher Höhe. Nun stehen die diesjährigen Preisträger:innen fest: Der Förderpreis geht an Dr. Chenchen Pan und Dr. Ruiyao Cai, das Stipendium an Clara Lamersdorf.
Hannelore Kohl Förderpreis zu gleichen Teilen an Dr. Chenchen Pan und Dr. Ruiyao Cai
Chenchen Pan und seine Kollegin Ruiyao Cai haben während ihrer gemeinsamen Zeit an der Graduate School of Systemic Neuroscience der Ludwig-Maximilians-Universität München eine revolutionäre Technik mitentwickelt, die das Verständnis von organischen Strukturen auf ein neues Level heben könnte. Ihnen ist es gelungen, vollständige Lebewesen zumindest innerhalb der Fluoreszenz-Mikroskopie transparent zu machen, um so beliebige Organe, Gefäße oder spezifische Zellen innerhalb eines Organismus beobachten zu können; bislang experimentiert das Team mit toten Mäusen. „Wir können so ganz genau nachvollziehen, was in einem Körper vor sich geht“, erklärt Cai. „Wir wissen zum Beispiel schon, dass ein Schlaganfall nicht nur Auswirkungen auf das Gehirn haben kann, sondern auch auf andere Organe wie zum Beispiel die Leber oder auf den Darm. Jetzt aber können wir diese Verbindungen direkt innerhalb des Systems untersuchen. Ebenso sind wir in der Lage, einzelne Krebszellen zu visualisieren und nachzuvollziehen, welche von ihnen durch ein Medikament abgetötet werden und welche nicht. Die Möglichkeiten sind nahezu endlos.“
Bei der vDISCO genannten Technik werden die Mäusekörper zunächst mit Wirkstoffen durchtränkt, die Fettgewebe und Pigmente zersetzen sowie Knochen von Kalk befreien. Gleichzeitig machen sie ihn hart wie Plastik – ein Körper kann so für Jahre aufbewahrt und studiert werden. Anschließend werden fluoreszierende Nanobodies eingesetzt, die so programmiert werden können, dass sie sich an spezifische Proteine heften, die nur in einem bestimmten Zelltyp vorkommen. Diese Zellen leuchten dann unter einem entsprechenden Mikroskop. „Auf diese Weise haben wir unter anderem nach einem Hirntrauma eine Reduktion von Nervenenden in Randbereichen des Körpers wie zum Beispiel im Schulterblatt feststellen können“, führt Pan aus. „Diese Ergebnisse können mögliche motorische Beeinträchtigungen bei Patient:innen mit einer solchen Schädelhirnverletzung erklären – bislang hat man dies auf abgestorbene neuronale Zellen im geschädigten Bereich zurückgeführt.“ Gleichzeitig hat Pan neue anatomische Strukturen zwischen dem Schädelknochenmark und der Hirnhaut gefunden, über die Immunzellen nach einer Verletzung in das Gehirn eindringen können.
Zusammengenommen ergeben sich möglicherweise ganz neue Ansätze für Therapien von Patient:innen mit einer neurologischen Dysfunktion“, so Pan, der in seiner neuen Position in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Heidelberg vDISCO weiterhin für verschiedene Studien einsetzen will. „Den Hannelore Kohl Förderpreis kann ich dabei unter anderem verwenden, um einen Rechner zu finanzieren, der die riesigen 3D-Bilder des Programms analysieren und verarbeiten kann.“ Beide betonen, dass die Auszeichnung eine große Ehre und eine Anerkennung ihrer Leistungen darstellt. „Das vDISCO-Projekt war für mich ein wichtiger Meilenstein“, erklärt Ruiyao Cai, die inzwischen an der Stanford University in Kalifornien forscht. „Es eröffnet ganz neue Möglichkeiten im Bereich der pathologischen Histologie, und viele weitere Studien werden darauf aufbauen. Ein nächster Schritt wird sicherlich sein, menschliche Organe mit vDISCO zu untersuchen. Ich freue mich, dass die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung diese Bemühungen unterstützt, mit denen wir hoffentlich irgendwann das Leben von vielen Betroffenen einer Schädelhirnverletzung nachhaltig verbessern können.“
Doktorandenstipendium für Cand. med. Clara Lamersdorf
Das Doktorandenstipendium geht in diesem Jahr an Clara Lamersdorf, die derzeit an der Munich Medical Research School der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) promoviert. Die 25-jährige beschäftigt sich mit der Versorgung von Kindern und Jugendlichen nach einer Gehirnerschütterung. Ein Fokus liegt neben dem Akutmanagement und der Beratung der Eltern betroffener Kinder auch auf dem Erkennen von potenziellen Langzeitfolgen einer Gehirnerschütterung: „In den meisten Fällen lassen die akuten Symptome eines solchen leichten Schädelhirntraumas innerhalb von wenigen bis zu 14 Tagen nach“, erklärt sie, „aber bei etwa zehn Prozent der Betroffenen können sie bis zu drei Monaten und bei fünf Prozent bis zu einem Jahr andauern oder gar zu chronischen Leiden werden. Dann spricht man von einem Post-Concussion Syndrom (PCS).“ Lamersdorfs Ziel ist es nun, jene Patient:innen frühzeitig zu erkennen, die ein erhöhtes Risiko für ein PCS haben, um sie dann nach einheitlichen Standards genauer untersuchen und gegebenenfalls gezielt behandeln zu können. Dafür gebe es bereits verschiedene Parameter – doch an einer allgemeingültigen Richtlinie mangelt es bislang. Dabei wäre sie so wichtig, wie Lamersdorf betont: „Seit 2005 ist die Zahl der Kinder, die mit einer Gehirnerschütterung in die Klinik gebracht werden, deutlich gestiegen, vermutlich, weil die Eltern inzwischen viel besser über mögliche Komplikationen informiert sind. Das bedeutet aber auch, dass ein möglichst flächendeckend abgestimmtes Vorgehen in der Anamneseerhebung, Diagnostik, Behandlung und Beratung nach leichtem SHT erstrebenswert ist. Daher möchte ich dazu beitragen, einen so genannten Clinical Pathway zu erarbeiten, der vom Akutmanagement bis zur strukturierten Nachsorge reicht.“ Dieses Projekt wird unter der Federführung von Dr. Anne-Sophie Holler und Professor Oliver Muensterer von der Kinderchirurgischen Klinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital München durchgeführt – in der etablierten engen klinischen und wissenschaftlichen Kooperation zu Dr. Michaela Bonfert und Professor Florian Heinen, Abteilung für Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie im Dr. von Haunerschen Kinderspital (Modellprojekt Concussion Clinic für Kinder und Jugendliche).
Das PCS ist dabei keine seltene Erkrankung, ganz im Gegenteil. „Wenn wir von den über 250.000 Kindern ausgehen, die mit einer Gehirnerschütterung jährlich stationär in einem Krankenhaus behandelt werden und noch die ebenso erhebliche Zahl an Patient:innen, die ausschließlich ambulant behandelt werden hinzunehmen, ergibt sich eine relevante Zahl an vom PCS betroffenen Kindern und Jugendlichen. Die Betroffenen leiden unter anderem an Kopfschmerzen, Schwindelanfällen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Stimmungsschwankungen oder Ängsten, häufig einer generellen Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit “, führt Lamersdorf aus. „Das konkrete Krankheitsbild ist dabei komplex, was es mitunter schwierig macht, ein PCS als solches zu erkennen. Ich denke aber, dass das Pathway-Projekt einen großen Fortschritt in der Versorgung von Kindern mit Gehirnerschütterung bedeuten könnte.“ Die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung könne dabei dank ihres großen Netzwerks an Wissenschaftlern und Ärzten in mehr als nur einer Hinsicht zum Erfolg beitragen.
In einem ersten Schritt plant Lamersdorf eine Erhebung, um festzustellen wie Klinikmitarbeiter und niedergelassene Ärzte aus ganz Deutschland betroffene Kinder und Jugendliche auf mögliche Risikofaktoren und Warnsymptome hin untersuchen. „Wir fragen zum Beispiel, welche Kriterien für eine stationäre Überwachung oder für eine Untersuchung mit einem bildgebenden Verfahren existieren und welche Ratschläge den Eltern bei einer ambulanten Betreuung mit auf den Weg gegeben werden“, erklärt Lamersdorf. „Außerdem begutachten wir bereits bestehende Leitlinien von Fachgesellschaften aus anderen Ländern, die natürlich stets auch von den Begebenheiten vor Ort abhängig sind.“ Aus diesen Daten will Lamersdorf sodann im Austausch mit einem interdisziplinären Team von Mediziner:innen eine erste Version des Pathways extrahieren. „Ich hoffe, dass wir diese erste Phase innerhalb eines Jahres abschließen können. Unsere Arbeitsgruppe der Concussion Clinic im Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU München ist zu dieser Thematik bereits in regem Austausch mit Kolleg:innen aus ganz Deutschland.“
Prof. Dr. med. Christian Gerloff, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung und Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf zu den Hintergründen bei der Auswahl der Preisträger:innen: „Zunächst ist zu sagen, dass wir auch dieses Jahr wieder exzellente Bewerberinnen und Bewerber sowohl für den Förderpreis als auch für das Stipendium hatten. Die Auswahl ist uns nicht leichtgefallen, und dennoch: Die Arbeiten von Chenchen Pan und Ruiyao Cai sind herausragend, weil sie einen ganz neuen Blick auf Hirnverletzungen als Systemerkrankungen erlauben. Diese technologische und konzeptionelle Innovation hat uns überzeugt. Die geplanten Arbeiten zu den Folgen eines Schädelhirntraumas, für die Clara Lamersdorf das Doktorandenstipendium erhält, adressieren ein Thema, das im Herzen unserer Stiftung liegt, und können einen relevanten Beitrag zu einer besseren Versorgung des Post-Concussion-Syndroms bei Kindern führen. Ein großartiges Vorhaben, das wir gerne unterstützen.“
Die feierliche Verleihung des Hannelore Kohl Förderpreises fand am 14.09.2021 in Berlin statt.
Download Bild: (Fotografin Monique Wüstenhagen, © ZNS – Hannelore Kohl Stiftung)
v.l.: Prof. Dr. Joachim Breuer (Vorstandsvorsitzender ZNS), Dr. Chenchen Pan, Dr. Ruiyao Cai, Prof. Dr. Christian Gerloff (stellv. Vorstandsvorsitzender ZNS)