Laudatio zum Förderpreis 1995

Förderpreis 1995
des
KURATORIUMS ZNS und der Hannelore-Kohl-Stiftung


Laudatio von Frau Hannelore Kohl
zur Übergabe an die Preisträger

Dr.med. Matthias Bähr, Tübingen
für die Arbeit:

"Zellulären Grundlage der neuronalen Regeneration im adulten Zentralnervensystem"

und

Dr. med. Horst Hummelsheim, Berlin
für die Arbeit:

"Physiotherapeutische Behandlungskonzepte in der Rehabilitation von Patienten mit zentralen Lähmungen - eine kritische Darstellung ihrer neurophysiologischen Grundlagen",

verliehen am 23. März 1995 in München.


Dr. Bähr erhält den Preis für seine Untersuchungen zur
"Zellulären Grundlage der neuronalen Regeneration im adulten Zentralnervensystem"

und Dr. Hummelsheim für seine Untersuchungen
"Physiotherapeutische Behandlungskonzepte in der Rehabilitation von Patienten mit zentralen Lähmungen - eine kritische Darstellung ihrer neurophysiologischen Grundlagen".

Ausgezeichnet werden damit zwei junge Wissenschaftler für hervor­ragende experimentelle und empirische Untersuchungen, die zugleich grundlegend und klinisch bedeutsam sind.

Dr. Matthias Bähr, geb. 1960 in Mainz, ist Facharzt für Neurolo­gie, Privatdozent und Oberarzt an der Neurologischen Universitäts­klinik Tübingen und zugleich experimentell neuropathologisch am Max-Planck-Institut in Tübingen tätig. Er verbindet Grundlagenforschung auf höchstem Niveau und klinische Tätigkeit in einer renommierten Neurologischen Klinik. Seine bisherigen Arbeiten und die hier vorgelegte Arbeit sind beispielhaft dafür, welche Bereicherung klinische und anwendungsorientierte Forschung durch Kooperation mit den theoretischen Neurowissenschaften erfahren kann.

Seine Untersuchungen zielen direkt auf eine Anwendung erworbenen Grundlagenwissens in der Praxis ab. Seine Untersuchungen beschäf­tigen sich mit der Analyse von zellulären Mechanismen der Degene­ration und Regeneration im zentralen Nervensystem nach traumatischer Schädigung und versuchen die Voraussetzungen für eine direkte Anwendung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Behandlung von Patienten mit traumatischen Schäden des zentra­len Nervensystems zu schaffen.

Dr. Bähr hat mit in vitro und in vivo Experimenten versucht, einige grundlegende Mechanismen der neuronalen Regeneration und Plastizität im zentralen Nervensystem von Säugetieren zu erfassen. Bislang musste man von der Annahme ausgehen, dass adulte Neuronen im Zentralen Nervensystem von Säugern nicht regenerationsfähig sind. Dass dies nicht so ist, belegt Dr. Bähr in seinen Arbeiten.

Er zeigt in der vorliegenden Arbeit, dass Nervenzellen aus dem adulten ZNS eine Durchtrennung ihrer Verbindungsbahnen überleben und wieder Axone, also Nervenfortsätze, ausbilden können. Mit einer Reihe von Zellkulturuntersuchungen konnte er weiter nachwei­sen, dass Gliazellen, also nicht-neuronale Umgebungszellen, für die Hemmung des Axonwachstums im zentralen Nervensystem und für die Förderung des Axonwachstums im peripheren Nervensystem verantwort­lich sind.
Er konnte nachweisen, dass speziell aktivierte Schwannzellen aus dem peripheren Nervensystem gute Wachstumspromotoren sind. Durch gezielten Einsatz von geeignet aktivierten Gliazellen, von mono­klonalen Antikörpern gegen hemmende Gliaproteine und/oder durch Anwendung von Pharmaka zeichnen sich zumindest im Tiermodell neue Strategien ab, unterbrochene neuronale Verbindungen zu rege­nerieren und eine Wiederherstellung der Funktion zu erreichen.
Die Grundlagenforschungen Dr. Bährs sind auch und nicht zuletzt bedeutsam für die Neurorehabilitation. Dr. Bähr zeigt eine wis­senschaftliche Begabung und inzwischen experimentelle Erfahrung sowie ein klinisches Engagement, von der wir in Zukunft weitere Arbeiten zu den zellulären Grundlagen der neuronalen Regeneration und der klinischen Neurorehabilitation erwarten dürfen.

Dr. Horst Hummelsheim, geb. 1957 in Rheydt, ist Leitender Oberarzt der Neurologischen Abteilung der Klinik Berlin, Facharzt für Neu­rologie und für physikalische und rehabilitative Medizin. Seit 1993 ist er Leiter eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes zum Thema "Neurophysiologische Mecha­nismen krankengymnastischer Übungsbehandlung bei Patienten mit zentralen Hemiparesen".

Krankengymnastische Übungsbehandlungen begleiten den Hirnverletz­ten oder Hirngefäßkranken in der Rehabilitationskette von der Akutphase bis in die nachstationäre ambulante Weiterbetreuung. Bei der hohen Zahl krankengymnastischer Behandlungen bei Patienten mit zentralen Paresen überrascht die geringe Zahl sorgfältig durchge­führter und methodisch exakter Studien zur Wirksamkeit einer kran­kengymnastischen Therapie und vor allem zum Wirksamkeitsvergleich verschiedener krankengymnastischer Behandlungskonzepte.

Für keine der bei zentralen Paresen angewandten krankengymnasti­schen Behandlungsmethoden besteht bislang ein nachvollziehbarer und geprüfter Indikationskatalog. Auch die Begründer gängiger krankengymnastischer "Schulen" (u.a. Bobath, Brunnstrom, Kabat, Vojta, Affolter) selbst haben keinen wissenschaftlichen Beitrag zur Frage der Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit ihrer Methoden ge­liefert. Mit diesen Methoden setzt sich Dr. Hummelsheim unter Berücksichtigung der neuroanatomischen und neurophysiologischen Gegebenheiten kritisch auseinander. Dabei prüft er selbst die Wir­kmechanismen verschiedener krankengymnastischer Behandlungstechni­ken mit neurophysiologischen und biomechanischen Methoden und an Kontrollgruppen. Diese methodenkritische Auseinandersetzung mit und die experimentellen Untersuchungen über die zum Teil seit langem eingeführten und erprobt erscheinenden krankengymnastischen Übungsbehandlungen wird sicher künftig die kritische Einstellung, die Auswahl und die Anwendung solcher Methoden bei der Behandlung motorischer Behinderungen beeinflussen.

Ich freue mich, mit Ihnen Herr Dr. Bähr und mit Ihnen Herr Dr. Hummelsheim zwei Wissenschaftler für Untersuchungen auszeichnen zu dürfen, die anregend und richtunggebend für die weitere Rehabi­litationsforschung sein werden. Ich freue mich aber auch darüber, dass unter den über 20 eingereichten Arbeiten mehrere gleichfalls sehr gute Arbeiten sind.

Dies zeigt uns, dass die Notwendigkeit der Rehabilitationsforschung immer mehr erkannt wird. Es lässt uns für die weitere Rehabilita­tionsforschung zum Wohle Hirnverletzter hoffen.